Osho schreibt in seinem „Yoga-Buch“*:
„Setz dich an einem frühen Morgen unter einen Baum, wenn die Sonne noch nicht aufgegangen ist; sobald die Sonne aufgeht, wird dein Körper aktiv und es ist schwerer, in der inneren Ruhe zu bleiben. Aus diesem Grund wurde im Osten immer vor Sonnenaufgang meditiert. Sie nennen dort diese Zeit brahmamuhurta, den Augenblick des Göttlichen.
Und sie haben Recht, denn mit der Sonne steigen Energien auf und fangen an, in die gewohnten Muster zu fließen, die du geschaffen hast. Am frühen Morgen ist alles still und die Natur schläft: die Bäume schlafen, die Vögel schlafen, die ganze Welt schläft, auch dein Körper ist noch still. Versuche einfach hier in diesem Moment zu sein. Tue nichts; meditiere nicht einmal. Gib dir keine Mühe. Schließe einfach deine Augen und bleib still, in der Stille der Natur.“
Wie speziell dieser Augenblick ist, wird mir in Ibiza und in Asien am deutlichsten … vielleicht weil der Alltag mit all den Sorgen und Plänen weiter weg liegt; weil durch das spezielle Ambiente, das Klima und die Nähe zum Meer meine Gewohnheits-Filter durchlässiger werden; und weil durch den Kontakt zur Natur die Nähe zu mir selber deutlicher wird.
Es ist dieser einmalige Moment, wenn auf den Geist nicht mehr die tamasische Kraft der Nacht und des Schlafes wirken; und wenn er noch nicht durch die Faszination der Welt und des Menschseins in rajasischer Manier nach außen gezogen und dort verwickelt wird. Es ist der sattvistische Moment des Tages, wenn sich frische Entspanntheit mit gelassener Wachheit vereint und die eigene Stille, Weite und Durchlässigkeit unterstützt und deutlicher wird.
Wie oft haben wir schon wunderbare Sonnenuntergänge gesehen; aber wer je diesen speziellen Moment erlebt hat, wenn die Sonne aus dem Meer auftaucht und mit einem klaren und sanften Lichtstrahl den Tag küsst, wird so einen Augenblick noch lange in sich tragen … auch an nebligen Herbsttagen oder in kalten Winternächten. Und schon wenige Minuten nach Sonnenaufgang ist die Energie der Natur und des angebrochenen Tages, die uns unwillkürlich in den Bann zieht, eine ganz andere, als noch vor Tagesanbruch.
Es ist eine Zeit, wo der äußere Rahmen einen inneren stillen Raum schafft; dieser bedingt mehr Klarheit und hilft, dass Lebensentscheidungen getroffen werden die innere und äußere Balance bewirken. Ganz nach dem Motto: Eine sattvische Tageszeit bedingt sattvische Überlegungen und Aktionen, die wiederum eine sattvische Lebensweise hervorrufen. Prioritäten verschieben sich und was eben noch wichtig erschien, wird nichtig und klein … und scheinbar Unwesentliches bekommt plötzlich eine ungeahnte Bedeutung.
Was für ein Geschenk wäre es, jeder Zeit und ohne solchen natürlichen Hilfsmitteln und speziellen Plätzen den Zugang zu sich zu finden? Bis es so weit ist, gönne ich mir immer wieder den Luxus, bestimmte Orte zu solchen Zeiten aufzusuchen, um das Zeitlose, Grenzenlose und Transpersonale in mir zu erahnen. … und Ibiza ist seit fast einem Jahrzehnt einer dieser Plätze um mir (und anderen) das zu ermöglichen.
* Dieses Yoga-Buch hebt sich durch seinen tiefen und spirituellen Inhalt wohltuend von den meisten anderen Asana- und Gymnastikbüchern ab.
PS: Das Foto entstand Anfang Oktober 2017 bei unserem jährlichen Ibiza-Retreat während einer Sonnenaufgangs-Meditation am abgelegenen Strand von Aquies Blanques.