Die heilsame Kraft der Meditation ist unbestritten. In der Satipatthana Sutta, einer der wichtigsten Lehrerrede des Buddha über Achtsamkeit, werden fünf Qualitäten der Meditation mit Bala bezeichnet, was sowohl Kind (vergleiche: Balasana) als auch Kraft bedeutet. Diese Doppeldeutigkeit beschreibt die unvergleichliche Macht, die ein junger Mensch in sich hat. Ohne diese Kräfte zu entwickeln, werden wir früher oder später vom meditativen Pfad abkommen, egal um welche Praxisform oder Tradition es sich handelt. Auch wenn folgende Auflistung ursprünglich aus dem Buddhismus stammt, so werden die gleichen fünf Qualitäten auch in den Yogasutren von Patanjali gelistet (Vers 1, 20).

Die fünf spirituellen Kräfte (Bala)
1) Vertrauen (Saddha)
2) Sinnvolle Anstrengung (Viriya)
3) Achtsamkeit (Sati)
4) Samadhi
5) Weisheit (Panja)

Vertrauen:

Auch wenn im Westen Intelligenz als wichtigstes Gut „verstanden“ wird, werden im Osten Saddha bzw. Bhakti als Schlüsselqualität gesehen, mit denen sich die Tore zur Spiritualität am leichtesten öffnen lassen. Manchmal müssen wir unzählige schlaflose Nächte verbracht, viele Tränen vergossen oder die ganze Palette von Leid durchlitten haben, bevor wir dieses feine Pflänzchen in uns entdecken und zur Entfaltung bringen können. Dann wird es uns leicht fallen, Hingabe gegenüber einer Lehre, einem Lehrer, Gott oder einer anderen Kraft zu erfahren, die wir großartiger als unser Ego einschätzen.

Übrigens ist Vertrauen auch jene Kraft, die dem Kritiker in uns die Argumente entzieht, und dem Zweifler die Entscheidungsunfähigkeit. Daraus entsteht eine Ruhe und Reife, die uns nicht nur an der Oberfläche des meditativen Ozeans herumstrampeln lässt, sondern wodurch wir in dessen Unermesslichkeit tiefer eintauchen dürfen.

Sinnvolle Anstrengung:

Sri Ramana Maharshi hat einmal gesagt: „Es gibt einen Zustand jenseits von Anstrengungen und Anstrengungslosigkeit. Solange er nicht erreicht ist, sind Anstrengungen notwendig.“ Allerdings hat in diesem Zusammenhang Bemühung wenig bis gar nichts mit physischen Übungen und schweißtreibender Praxis zu tun. So schreibt der von mir sehr geschätzte englische Sanskritgelehrte Matthew Clark in seinem Büchlein „The Origins and Practices of Yoga“: „Jnana, Bhakti und Karma-Yoga (Yoga der Erkenntnis, Hingabe und selbstloser Handlung) sind eigentlich mentale Pfade, von denen keiner Disziplin in Bezug zu Körper und Atem verlangt, aber dafür ist mentale Anstrengung notwendig, um die Vision und das Verständnis des Praktizierenden zu transformieren.“

Achtsamkeit:

ist die Grundlage der buddhistischen Meditation und beinhaltet Körper, Gefühle, Geist und alle sonstigen Phänomene und Wahrheiten, die man sich bewusst machen kann. Es hängt von unserer Konzentrationsfähigkeit ab, wie sehr wir uns auf etwas fokussieren können – egal ob weltlicher oder spiritueller Natur – oder ob wir uns in dem so faszinierenden Kaleidoskop der Sinneswelt ständig verlieren.

Wenn wir in unserer Praxis ein höheres Ziel vor Augen haben, als nur den endlosen und willkürlichen Gedankenstrom zu beruhigen, dann sollten wir uns nicht nur auf ein Meditationsobjekt versteifen. Denn wie sollte sich eine dualistische Methode, die Subjekt und Objekt als Grundlage hat, in einen nicht-dualen Zustand (Advaita) von göttlicher Einheit (Brahman), Befreiung (Moksha) oder Auslöschung (Nirwana) transformieren? Das heißt, irgendwann müssen wir den ungewöhnlichen Looping schaffen, den Beobachter zu beobachten, um zum transpersonalen Selbst-Bewusst-Sein (Atma-Vichara) zu werden. Da diese introvertierte Ausrichtung universal und zeitlos ist, stand sie u.a. schon auf den griechischen Tempeln: „Gnotis auton!“: Erkenne dich selbst!

Samadhi:

hat im Sanskrit-English Dictionary über 40 Bedeutungen, wobei mir „falling in place“ am stimmigsten erscheint. Wie dehnbar dieser Begriff ist, wird klar, wenn z.B. der buddhistische Weg in drei Abschnitte eingeteilt wird: Ethik (Sila) am Anfang, Erkenntnis (Panja) am Ende, und Samadhi als umfangreiche Brücke dazwischen.

Weisheit:

bedingt, dass wir uns von den Verwicklungen mit der Welt emanzipieren (Kaivalya) und unsere unvergängliche Essenz wiederentdecken. So wie die Sonne immer scheint, aber durch Wolken, die Erde oder manchmal durch den Mond verdeckt wird, so ist unser wahres Wesen (Sat, Atman, Brahman) von leidverursachenden Trübungen (Klesha) wie Unwissenheit, Ichhaftigkeit, Begehren, Ablehnung und Angst überlagert.

Im Buddhismus wird Vipassana, d.h. Einsichtsmeditation, als wichtigster Fluchtweg aus dem Samasara gesehen. Mit klarem Verstand erkennt man, dass alle Phänomene vergänglich sind (Aniccha), Nicht-Ich (Anatta) und Leidhaft (Dukkha), solange man sich damit identifiziert. In den Upanishaden wird diesbezüglich Atma Vichara, d.h. Selbsterkenntnis, als besondere Methode hervorgehoben. „Wenn man sich die Frage ‚Wer bin ich?‘ stellt, dann geht der Geist zu seinem Ursprung zurück und aufgestiegene Gedanken kommen zur Ruhe. Wird diese Übung ständig praktiziert, dann entwickelt der Geist die Fähigkeit, in seinem Ursprung zu verweilen.“ (Sri Ramana Maharshi)

Die heilsame Kraft der Meditation und ergänzende Zusammenhänge

Die fünf Kräfte der Meditation sind nicht nur stufenartig zu verstehen, sie bedingen und unterstützen sich auch gegenseitig. So kann man diese Qualitäten mit einer Balkenwaage, die zwei Balken und vier Waagschalen hat, vergleichen: Die mittlere Stütze repräsentiert Achtsamkeit (Sati); das eine Waagschalen-Paar hält Anstrengung und Samadhi in Balance, das andere Vertrauen und Weisheit. Dem Yoga-Sutra (1,12) nach soll beharrliches Üben (Abhyasa) mit Losgelöstheit (Vairagya) ausgeglichen werden; und Vertrauen mit Weisheit, denn Glaube sollte in eigenständiger Erkenntnis resultieren, die wiederum das Vertrauen bestärkt.

Die heilsame Kraft der Meditation kommt dann zur Wirkung, wenn uns diese Balance zumindest ansatzweise gelingt. Dann sind wir auf unserem spirituellen Weg bestens gerüstet und können kurzweilige Trends, schnelle Heilsversprechen und esoterische Phantasien getrost hinter uns lassen. Alles Weitere wird sich dann früher oder später von selber lösen.