„Zu welchem Ufer willst du gelangen, mein Herz? Es gibt keinen Weg und niemand, der dir vorangeht. Was heißt schon Kommen und Gehen? An jenem Ufer kein Boot und kein Fährmann das Boot zu verankern. Da gibt es weder Himmel noch Erde, weder Zeit noch irgendein Ding, kein Ufer und keine Küste. Bedenke es wohl, mein Herz! Gehe nicht anderswohin.“
Indischer Mystiker Kabir
„Herz“ als Begriff und Symbol beinhaltet unendlich viele Facetten. Es ist in allen Kulturen, Religionen und Traditionen ein wichtiger – wenn nicht sogar der wesentlichste – Bestandteil. Weil unsere Lebensumstände zunehmend gedankenvoller und herzloser werden, gewinnt der Herz-Aspekt zunehmend an Bedeutung: Sei es als inflationäres Konsumprodukt oder als unbegreifliches Phänomen. Herzenssymbolik und Wortspielereien kommen in erotischem und romantischem Kontext vor, bei einfältigen Werbeslogans und in berührender Poesie, in religiöser Darstellung, in psychologischen und spirituellen Zusammenhängen, als Ausdruck der Orientierung im Leben und als höchstes Ziel und Essenz unserer Existenz.
„Folge Deinem Herzen!“
wird in der Esoterik- und Yoga-Szene manchmal bis zum Überdruss als Allheilmittel angeboten. Sebastian Gronbach kritisiert die „esoterische Herzens-Bullshit“-Version, und jene des „spirituellen Materialismus“ und die des „Goldene-Kalbes“: ‘Wir sagen tausend Mal am Tag Folge deinem Herzen!’ und denken, alles ist gut. Aber was ist eigentlich wirklich damit gemeint? Bedeutet es, seinen Emotionen zu folgen? Bedeutet es, den kurzen Impulsen zu folgen, die heute in die Richtung und morgen in jene Richtung gehen? Gibt es vielleicht eine Perspektive, dass es immer nur zum höchsten Heil und zur tiefsten Heiligkeit führt? Und gibt es auch eine Perspektive, wo das Folgen des Herzens nur zum größten Unheil und zum größten Leid führt?“
Ich möchte mich hier auf drei heilsame und spirituelle Zugänge beschränken, die sich interessanterweise an drei unterschiedlichen Regionen im Brustbereich befinden:
1) Herzorgan und Sinnlichkeit (links)
2) Ichbewusstsein und Liebe (mittig)
3) Höheres Bewusstsein (rechts)
1) Herz als physisches Organ
Alleine die Tatsache, dass das Herz ca. 100.000 Mal am Tag schlägt und in einem Leben ca. drei Milliarden Mal das Blut durch den Körper pumpt, sollte uns bewusst machen, was für ein Wunderwerk uns Tag und Nacht am Leben erhält. Es genügt ein Herzstillstand von einigen Minuten und der ganze unvorstellbare Zauber bricht für immer zusammen.
Gesunder flexibler Herzschlag
Wir fühlen uns erst dann wirklich lebendig, wenn wir im Rahmen eines gesunden Tagesrhythmus spontan und flexibel auf innere und äußere Eindrücke agieren. Ralph Skuban schreibt in seinem Pranayama-Buch: Die Herzratenvariabilität (HRV) ist „ein objektiv ermittelbarer Wert, der die natürlichen Fluktuationen der Herzfrequenz während der Ein- und Ausatmung abbildet. Daraus lässt sich ablesen, inwieweit wir in der Lage sind, uns immer wieder auf die permanenten, sich veränderten Lebensbedingungen einzustellen.“ Oder anders ausgedrückt: „Ein Herz, das mit der Gleichmäßigkeit eines Metronoms arbeitet, spiegelt uns einen kranken Menschen.“
Askese versus Tantra
Zum physischen Aspekt des Herzens zähle ich hier auch Sinnlichkeit und Libido. Dabei prallen in Indien (und in anderen spirituellen Traditionen) extreme Askese und zölibatäres Mönchstum auf tantrische Praktiken und hedonistisches Gedankengut. Einerseits gibt es Sadhus, die ihren Penis verstümmeln, und buddhistische Mönche, die bei sexuellen Handlungen ihren Mönchsstatus verlieren; anderseits gibt es Texte wie die Kama-Sutra und die Vorstellung, dass Sinneslust eines der vier Schätze des Menschseins (Purusharthas) sind.
Die Missbrauchsskandale
in den letzten Jahren auf beiden Seiten, und meine eigene Erfahrung als ehemaliger buddhistischer Mönch und jetziger Ehemann, bekräftigen mich darin, dass ein fürsorglicher Mittelweg einen gesunden und lebenswerten Kompromiss darstellt. Das schließt aber keineswegs aus, dass sich einige Menschen in dem einen oder dem anderen Extrem besser aufgehoben fühlen. Problematisch wird es allerdings dann, wenn man dabei in Intoleranz und Fanatismus stecken bleibt.
2) Ichbewusstsein
Das Herzsymbol steht für Güte und Liebe, und wird im Allgemeinen mit der Farbe Rot assoziiert. Es entspringt den stilisierten Darstellungen vom Feigenblatt, und später vom Efeublatt, das in griechischen, römischen und frühchristlichen Kulturen symbolisch für die ewige Liebe steht. Es steht aber auch für unerschütterliche Hingabe. Der Herzchen-Kult zu Valentinstag ist ein romantischer Ausdruck dafür; Marien- und Jesus-Darstellungen mit brennenden Herzen deuten ebenfalls auf ein überwältigendes religiöses Gefühl hin. Aber es ist auch kein Zufall, dass der Affengott Hanuman in seiner Brust Sita und Rama immer bei sich trägt.
Liebes-Facetten
In der indischen Philosophie wird klar zwischen Kama (Sinneslust), Prema (religiöser Hingabe) und Maitri (selbstlose Liebe) unterschieden; in der westlichen Mythologie zwischen Eros (begehrender Liebe), Phila (gegenseitige Freundesliebe) und Agape (wohlwollende Liebe). Romantische Liebe, wie sie heutzutage im Westen als selbstverständliche „Leiden-schaft“ erlebt wird, ist erst ab dem Mittelalter adressiert worden. Allerdings führt diese bis heute in den meisten Kulturen der Welt noch ein Schattendasein.
Liebes-Beziehung
Wurde das Herz von Amors Pfeil getroffen, ist das noch keine Garantie, dass man tatsächlich den Partner fürs Leben gefunden hat. Denn in der Verliebtheitsphase legen die chemischen Prozesse des Fortpflanzungstriebes die objektive Unterscheidungsfähigkeit lahm; und das manchmal mit katastrophalen Folgen. Eine Beziehung wird erst dann als rundum stimmig erlebt, wenn alle Aspekte von Liebe, in Form von Eros, Phila, Agape und Romantik, ineinanderfließen und sich beschwingt ergänzen.
Das Anahata Chakra
ist im buddhistisch Tantra und im Hathayoga das mittlere der sieben Hauptchakras. Sie stellt eine Brücke zwischen den drei unteren, weltlich orientierten, und den drei oberen, spirituell ausgerichteten Chakras dar. Der Name bedeutet „unverletzt, nicht angeschlagen“, weil innere Klänge, Anahata Nada, im Herzen hörbar sind. Es ist das Chakra der reinen Liebe, der bedingungslosen Freude und es braucht keine äußeren Stimuli um ins Schwingen zu kommen.
Rechter Wegweiser
„Folgen deinem Herzen“ kann bedeuten, seiner Intuition, seinem Bauchgefühl oder seiner Glückseligkeit zu folgen. Aadil Palkhivala grenzt dieses feine sattvische Empfinden klar von Logik und Sinnesfreuden ab: „Dem Herzen folgen, und nicht so sehr dem Kopf oder unserer Lust – das ist der einzige Weg zu mehr Magie im Leben. Lerne, auf die leise Stimme zu hören und nicht so sehr auf die lauten Stimmen des rationalen Hirns oder der blinden Leidenschaft. Denn nur unser Herz kann uns zu unserer Seele führen – und unsere Seele ist das wahre Wunder.“
3) Höheres Bewusstsein
Joseph Campbell, der sein Leben lang Mythologien aller Kulturen studiert hatte, folgte in seinem Leben immer nur einem Motto: „Follow your bliss!“ Darüber sagte er: „Ich bin auf die Idee von Seligkeit gekommen, weil es in Sanskrit – welches die großartigste spirituelle Sprache der Welt ist – drei Definitionen gibt, die den Absprungplatz in den Ozean der Transzendenz definieren: sat-chit-ananda, was ‚Existenz-Bewusstsein-Seligkeit‘ bedeutet. Ich dachte, ‚Ich weiß nicht, was mit Existenz und Bewusstsein wirklich gemeint ist, aber ich weiß, wie sich Seligkeit anfühlt. Daher will ich mich nach ihr orientieren, und die wird mir beides bringen: Bewusstsein und Existenz‘.“
Hridayam
das Sanskrit-Wort für „Spirituelles Herz“, bedeutet wörtlich „Das Zentrum“. (Damit ist übrigens nicht das Anahata-Chakra des Tantra gemeint, das sich entlang der Wirbelsäule befindet.) Viele Menschen glauben, dass dieses spirituelle Herz sich auf der linken Seite oder in der Mitte der Brust befindet. Interessanterweise findet man im Alten Testament die Aussage: “Des Weisen Herz ist zu seiner Rechten; aber des Narren Herz ist zu seiner Linken.“ Prediger 10:2
Als Mercedes De Acosta 1938 ein persönliches Gespräch mit Sri Ramana Maharshi über das spirituelle Herz führte, verwies er auf die rechte Seite seiner Brust und sagte: „Hier liegt Hridaya, das dynamische, spirituelle Herz und für das innere Auge eines Meister des spirituellen Pfades ist es klar sichtbar. Durch Meditation kann man lernen das Selbst in der Höhle dieses Herzens zu finden.“
Das einfache Geheimnis
Nach dieser Reise durch die unterschiedlichen Bereiche des Herzens, wird klar, wie unersetzlich und zugleich anspruchsvoll die spirituelle Reise nach Innen ist. Genau diesen Ratschlag gibt der Fuchs dem kleinen Prinzen auf seinen Weg mit: „Hier mein Geheimnis. Es ist ganz einfach: man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“