„Wir sind ein Teil der Erde, und sie ist ein Teil von uns.
Die duftenden Blumen sind unsere Schwestern,
die Rehe, das Pferd, der große Adler sind unsere Brüder.“

Häuptling Seattle

In unterschiedlichen spirituellen Traditionen und schamanischen Lehren haben die Himmelsrichtungen schon immer eine wesentliche Bedeutung gehabt. Diese unterschiedlichen Aspekte können erhellende und hilfreiche Leitfäden für den eigenen Lebensweg sein. Da es so viele verschiedene Deutungen gibt, erlaube ich mir, hier meine eigenen Gedanken wiederzugeben, ohne mich auf eine bestimmte Überlieferung zu fixieren.

Der Osten

„Ein neues Leben kannst du nicht anfangen, aber täglich einen neuen Tag.“
Henry David Thoreau

Eine Geburt passiert nicht unvorhergesehen und plötzlich, sondern ist die Folge eines längeren Prozesses. Ebenso ist der Tagesbeginn ein allmählicher Vorgang. Die Zeit vor Sonnenaufgang wird im Yoga „Brahmamuhurta“ genannt, denn diese „göttliche Stunde“ hat eine ganz spezielle sattvische Qualität für eine spirituelle Praxis. Die Ruhe der Nacht ist spürbar und das Tor zu überirdischen Erkenntnissen ist noch offen und verbindet sich mit den erwachenden, weltlichen Energien des Tages.

Lebens-Frühling
Im Osten geht es um Aufbruch und Neubeginn. Dabei sollten wir nicht in der Gewohnheit stecken bleiben, einen neuen Tag in das abgetragene Korsett des Gestern zu stecken. Auch wenn wir Alltagsroutinen wie auf Schienen abspulen, ist jeder Morgen und jedes Heute eigentlich einzigartig und unterscheidet sich von Allem, was wir bisher erlebt haben.

In dem Moment, wo wir die natürliche Sehnsucht nach Entfaltung spüren – ähnlich wie die Sonne, die über den Horizont nach oben steigt – fließt eine kreative und optimistische Kraft in unsere Gedanken und in unsere Aktionen. Solange wir Visionen im Leben haben und solange wir dabei sind, diese in irgendeiner Form umzusetzen, erleben wir Sinn und Dankbarkeit im Leben.

Das Luftelement
Die Luft verbindet das Himmlische mit dem Irdischen, den Körper mit dem Geist, das Leben mit dem Tod und den Tod mit dem Leben. Über Stimme und Gesänge gibt die Luft Wissen und Weisheit weiter. Es beinhaltet sowohl die männliche Qualität von Logik, Klarheit und Direktheit, als auch das Kindliche mit seiner Leichtigkeit, Lebensfreude und Kreativität.

Fragen an den Osten
Was will ich beginnen und kreieren?
Was möchte ich neu lernen?
Auf welches neue Lebensabenteuer will ich mich einlassen?

Der Süden

„Wenn die Sonne scheint kann ich alles schaffen; kein Berg ist zu hoch, kein Problem zu schwer.“
Wilma Rudolph

Wenn wir uns in einem Lebenszyklus zunehmend in Richtung Süden ausrichten, dann wachsen wir aus der abhängigen Kindheit und der pubertären Jugendzeit heraus und werden (hoffentlich) zu einem unabhängigen Erwachsenen. Nach all den unterschiedlichen Versuchen, Irrtümern und Lehrjahren, ist jetzt endlich die Zeit reif, dass wir wissen, was wir wirklich im Leben wollen. Mit Selbstbewusstsein stehen wir mit beiden Füßen am Boden der Realität und gestalten unser Leben. Der innere Überfluss drückt sich im Umgang mit der Umwelt und den Mitmenschen aus; und auch in der Liebesbeziehung zu einem ganz bestimmten Menschen. Das menschliche Bedürfnis nach Intimität, Sexualität, Familie und Kindern kommt hier zur vollen Blüte.

Lebens-Sommer
Der Sommer des Lebens gibt uns Kraft und Potenzial, sodass wir uns beruflich, gesellschaftlich, familiär und individuell verwirklichen können. In der Mitte des Lebens haben wir genug Erfahrungen gesammelt, Werkzeuge geschaffen und uns Wissen angeeignet, um den weltlichen Herausforderungen zu begegnen. Der Lebens-Sommer inspiriert uns zu ungewöhnlicher Leistung, zu wunderbaren Lebensaufgaben und zu manch einzigartigen Werken.

Midlife-Crisis
Wenn dieser Höhepunkt des Sonnenstandes im Leben überschritten ist und ein Großteil unseres Lebens schon hinter uns liegt, dann kann so manche Sinnkrise oder ein heftiges Burnout unsere Alltagsroutine zum Einstürzen bringen. Neue und essenzielle Fragen werden lauter, die bisher im beruflichen und familiären Getöse nicht wahrgenommen wurden. Früher oder später wird uns dadurch bewusst werden, dass gerade schwierige Phasen uns einzigartige Chancen aufzeigen, um zu mehr Selbsterkenntnis und Erfüllung zu gelangen.

Das Feuerelement
Im Süden brennt in uns die größte Lebensenergie und Leidenschaft, die sich in Liebe, Sexualität, Kreativität und Selbst-Verwirklichung ausdrücken. Die Gefahr dabei ist, dass wir das gesunde Maß verlieren, zu wenig Ruhephasen einlegen und dadurch ausbrennen.

Fragen an den Süden
Wofür brenne ich im Leben?
Welche meiner Fähigkeiten möchte ich in die Welt bringen?
Wie gestalte ich meine Beziehungen zu meinen Mitmenschen?

Der Westen

„Wie jede Blüte welkt und jede Jugend dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe, blüht jede Weisheit auch und jede Tugend zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.“
Hermann Hesse

Jeder Mensch geht unterschiedlich damit um, wenn sich der Lebenszyklus in Richtung Westen wendet und uns klar wird, dass sich unsere Lebenssonne dem Horizont zuneigt. Jene Menschen, die es bisher versäumt haben, ihr Dharma zu leben und ihren Sinn zu finden, haben Mühe, sich der Tatsache der Vergänglichkeit zu stellen.

Lebens-Herbst
Wenn sich um uns und in uns vieles zunehmend – und manchmal auch unerwartet – verfärbt und verändert, der Körper und der Geist uns seine Grenzen unmissverständlich aufzeigt, dann hält uns die Natur unverblümt den Spiegel vor: Unsere Jahre und Tage auf Erden sind gezählt.

Aber es ist auch die Zeit, wo wir jene Früchte ernten dürfen, die wir in frühen Jahren gesät haben. Es ist die Phase, in der wir Verantwortungen und Verwicklungen zur Welt lösen können und sich dadurch neue Horizonte und Perspektiven eröffnen. Spätestens jetzt sollte unsere Lebensaufgabe darin bestehen, Frieden und Heilung in uns und mit der Welt zu verwirklichen.

Weisheit im Alter
Trotz dieser begrenzten Aussichten kann es uns gelingen, dass gerade dieser Spätnachmittag des Lebens am schönsten und am erfülltesten erlebt wird. Gewisse Weisheiten und Werte werden uns manchmal erst in den letzten Kapiteln des Lebensbuches geschenkt. Darum werden in jenen Kulturen, in denen der Kapitalismus nicht zur Religion und das Geld nicht zum Götzen pervertiert wurden, weise Alte als wichtige Lehrer und Vorbilder verehrt und zu Rate gezogen.

Wasser-Element
Wasser kann still, weich, wild und kraftvoll sein und steht für den weiblichen Aspekt in uns. Es hilft uns, das Stockende ins Fließen zu bringen und Altlasten loszulassen. Wasser stärkt in uns jenes Fühlen und jene Hellsichtigkeit, die wir brauchen, wenn wir uns dem Unbekannten zuwenden, das uns beim Sterben und nach dem Tod erwartet.

Fragen an den Westen:
Was möchte ich loslassen und zum Abschluss bringen?
Worauf kann ich dankbar zurückblicken?
Was kann ich der nächsten Generation weitergeben?

Der Norden

„Nur das Unbekannte ängstigt den Menschen. Sobald man ihm die Stirn bietet, ist es schon kein Unbekanntes mehr.“  Antoine de Saint-Exupéry

So wie der Süden den weltlichen Alltag und das Menschsein auf Erden repräsentiert, so steht der Norden für verdrängte und vergessene Aspekte und für ver-rückte und abnormale Realitäten, die wir im gewöhnlichen Bewusstseinszustand nicht sehen und begreifen können. Dort liegen unsere Schatten und dunklen Seelenaspekte verborgen, tauchen wir in Träume ein, nehmen Kontakt mit unseren Ahnen auf, machen Nahtod-Erfahrungen und erscheinen uns Geister und außerirdische Wesen.

Dem Unbekannten begegnen
Wenn wir diese unbekannten, unheimlichen oder unangenehmen Phänomene willkommen heißen, dann werden wir mit weniger Ängsten und Sorgen und mit mehr Vertrauen, Spontanität und Mut leben. Dadurch werden Alltagskrisen und der Tod als Chance und als Tor zu neuen Möglichkeiten und Welten begriffen und ergriffen.

Siddhis
Der Norden steht auch für übernatürliche und transpersonale Erfahrungen, die wir – wie im Yoga-Sutra 4.1 beschrieben –mit Hilfe von pflanzlichen Substanzen oder Drogen (oṣadhi), Mantren, Askese (tapas) oder Versenkungszuständen (samādhi) erfahren können.

Raum-Element
Auf der physischen Ebene beinhaltet Äther (Sanskrit akasha) das gesamte elektromagnetische Spektrum und alles Nicht-Materielle, das auf die physische Welt Einfluss nimmt. Dieses abstrakte Prinzip des Raumes beinhaltet die Verbundenheit mit all unseren seelischen Bereichen, Schattenanteilen, anderen Welten und überirdischen Phänomenen.

Fragen an den Norden
Wovor laufe ich im Leben davon?
Welche Ängste habe ich vor dem Sterben und dem Tod?
Wie stehe ich in Verbindung zu meinen Ahnen?
Wie bereite ich mich auf den Tod vor?

Das Unten / Mutter Erde

„Wir sind ein Teil der Erde, und sie ist ein Teil von uns. Die duftenden Blumen sind unsere Schwestern, die Rehe, das Pferd, der große Adler sind unsere Brüder.“
Häuptling Seattle

Die Art, wie wir mit unserem Planeten umgehen, spiegelt wie wir mit uns selber und unseren Mitmenschen umgehen. Wenn wir die Erde als lebenden Organismus, als Gaia oder Pachamama betrachten, werden wir ein natürliches und symbiotisches Erdenleben führen. Das steht nicht unbedingt im Widerspruch zu unseren modernen Errungenschaften, denn mit der richtigen Einstellung wird uns jede menschliche Erfindung als Bereicherung und Chance für mehr Menschlichkeit und Verbundenheit dienen.

Natur als Heilerin
Nichts kann heilsamer für unsere Seele und unseren Körper sein als der Aufenthalt in der Natur, im Wald, am Berg oder Meer, denn es bringt uns mit unseren eigenen Wurzeln und dem eigenen Wesen in Verbindung. Wenn wir diese Naturverbundenheit verlieren, dann verlieren wir unser eigentliches Menschsein, unsere Hoffnungen und unsere Visionen für eine bessere Welt.

Das Erdelement
Die Erdenergie ist eine mütterliche, weibliche Energie, die uns dabei unterstützt, auch in stürmischen Zeiten nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Fragen an die Erde
Wie kann ich mich mehr im Leben verwurzeln?
Wo kann ich loslassen und mich den natürlichen Gesetzen anvertrauen?
Wie kann ich täglich mit der Natur bewusst in Kontakt treten?

Das Oben / Göttliches Prinzip

„Wenn ich erkenne, dass ich Nichts bin – das ist Weisheit. Wenn ich erkenne, dass ich Alles bin – das ist Liebe. Und zwischen diesen beiden fließt mein Leben.“  Nisargadatta Maharaj

Wenn wir uns bewusst nach oben ausrichten, dann nehmen wir Kontakt zum göttlichen Prinzip und damit zur Unendlichkeit und Zeitlosigkeit auf. Diese universelle Kraft beinhaltet mit ihrem umfassenden Bewusstsein alles, was existiert, bedingungslos und frei von den menschlichen Kategorien Gut und Böse, Richtig und Falsch ist. In dieser erhabenen Haltung wird der einzigartige Augenblick zur Ewigkeit, und die Ewigkeit manifestiert sich im unvergänglichen Hier & Jetzt.

Perspektivenwechsel
Wechseln wir in diesen Raum der Unendlichkeit, dann relativieren sich all unsere trivialen, alltäglichen Sorgen und Probleme. Alles darf sein und hat einen Sinn, auch wenn wir diesen nicht verstehen. Unser menschlicher Kontrollwahn und Perfektionismus löst sich auf, Vertrauen breitet sich aus und lässt uns entspannt mit dem Lebensstrom fließen. Die Trennung zwischen meiner begrenzten individuellen Existenz und der Welt da draußen existiert nicht mehr, Alleinsein transformiert sich in ein All-Eins-Sein. Im Englischen heißt es treffend: “I like i-llness turns into We like we-llness.”

Fragen an den Göttlichen Aspekt
Wie kann ich mehr Raum für Spiritualität und Mystik schaffen?
Wie kann ich mich vom Über-Ich eines strafenden Gottes lösen?
Kann ich die religiösen Krücken loslassen?

Das Zentrum / das Innen

„Ohne das Haus zu verlassen kenne ich das ganze Universum.“  Lao-Tzu

Nach diesen Ausflügen in alle möglichen Richtungen und Aspekte des Lebens, kehren wir zurück zu unserem eigenen Zentrum. Was erleben wir, wenn wir die Augen schließen und uns nicht mehr von dem faszinierenden Kaleidoskop der Welt ablenken lassen. Was passiert mit uns, wenn wir unsere gewohnten Konzepte, Religionen, Philosophien und Glaubenssätze loslassen? Entdecken oder erahnen wir vielleicht, dass nicht wir in der Welt sind, sondern das ganze Universum in uns liegt, wie eine realistisch wirkende Traumwelt?

Die Lebensbühne
Vielleicht sind wir alles zugleich: Die Schauspieler, der Regisseur, der Bühnenarbeiter, der Souffleur und das Publikum; wir sind aber auch das Theater und alle Stücke, die bisher gespielt wurden und in Zukunft spielen werden. Und wir sind offen, neugierig, versöhnlich, verständnisvoll gegenüber dem Akt, der sich jetzt gerade auf unserer Lebensbühne sich abspielt … und nehmen nichts davon zu persönlich.

Fragen an unser Inneres?
Wie zufrieden bin ich, wenn ich alleine bin?
Was bin ich, wenn Äußeres wegfällt, an dem ich mich im Leben festhalte?
Wer bin ich, wenn ich weder Körper, Geist, Gedanken und Gefühle bin?

Eine Einladung
Nimm dir eine Auszeit und mach dir bewusst, welche der Himmelsrichtungen gerade mehr Raum in deinem Leben braucht. Tauche darin tiefer ein und lade die entsprechenden Aspekte bewusster in deinen Alltag ein, in deine Träume und Visionen. Vielleicht werden dann eigenartige Helfer erscheinen, sich ungewöhnliche Situationen ergeben und unbekannte Tore öffnen, die dein Leben zunehmend ganzheitlich, freudvoll und zufrieden gestalten.